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ЖАНРЫ

1924 Голодарь (сборник)
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Dass ich mit den Jahren doch ein wenig unruhig geworden bin, hat mit der eigentlichen Bedeutung der Sache gar nichts zu tun; man h"alt es einfach nicht aus, jemanden immerfort zu "argern, selbst wenn man die Grundlosigkeit des "Argers wohl erkennt; man wird unruhig, man f"angt an, gewissermassen nur k"orperlich, auf Entscheidungen zu lauern, auch wenn man an ihr Kommen vern"unftigerweise nicht sehr glaubt. Zum Teil aber handelt es sich auch nur um eine Alterserscheinung; die Jugend kleidet alles gut; unsch"one Einzelheiten verlieren sich in der unaufh"orlichen Kraftquelle der Jugend; mag einer als Junge einen etwas lauernden Blick gehabt haben, er ist ihm nicht "ubelgenommen, er ist gar nicht bemerkt worden, nicht einmal von ihm selbst, aber, was im Alter "ubrigbleibt, sind Reste, jeder ist n"otig, keiner wird erneut, jeder steht unter Beobachtung, und der lauernde Blick eines alternden Mannes ist eben ein ganz deutlich lauernder Blick, und es ist nicht schwierig, ihn festzustellen. Nur ist es aber auch hier keine wirkliche sachliche Verschlimmerung.

Von wo aus also ich es auch ansehe, immer wieder zeigt sich und dabei bleibe ich, dass, wenn ich mit der Hand auch nur ganz leicht diese kleine Sache verdeckt halte, ich noch sehr lange, ungest"ort von der Welt, mein bisheriges Leben ruhig werde fortsetzen d"urfen, trotz allen Tobens der Frau.

3. EIN HUNGERK"UNSTLER

In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerk"unstlern sehr zur"uckgegangen. W"ahrend es sich fr"uher gut lohnte, grosse derartige Vorf"uhrungen in eigener Regie zu veranstalten, ist dies heute v"ollig unm"oglich. Es waren andere Zeiten. Damals besch"aftigte sich die ganze Stadt mit dem Hungerk"unstler; von Hungertag zu Hungertag stieg die Teilnahme; jeder wollte den Hungerk"unstler zumindest einmal t"aglich sehn; an den sp"atern Tagen gab es Abonnenten, welche tagelang vor dem kleinen Gitterk"afig sassen; auch in der Nacht fanden Besichtigungen statt, zur Erh"ohung der Wirkung bei Fackelschein; an sch"onen Tagen wurde der K"afig ins Freie getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der Hungerk"unstler gezeigt wurde; w"ahrend er f"ur die Erwachsenen oft nur ein Spass war, an dem sie der Mode halber teilnahmen, sahen die Kinder staunend, mit offenem Mund, der Sicherheit halber einander bei der Hand haltend, zu, wie er bleich, im schwarzen Trikot, mit m"achtig vortretenden Rippen, sogar einen Sessel verschm"ahend, auf hingestreutem Stroh sass, einmal h"oflich nickend, angestrengt l"achelnd Fragen beantwortete, auch durch das Gitter den Arm streckte, um seine Magerkeit bef"uhlen zu lassen, dann aber wieder ganz in sich selbst versank, um niemanden sich k"ummerte, nicht einmal um den f"ur ihn so wichtigen Schlag der Uhr, die das einzige M"obelst"uck des K"afigs war, sondern nur vor sich hinsah mit fast geschlossenen Augen und hie und da aus einem winzigen Gl"aschen Wasser nippte, um sich die Lippen zu feuchten.

Ausser den wechselnden Zuschauern waren auch st"andige, vom Publikum gew"ahlte W"achter da, merkw"urdigerweise gew"ohnlich Fleischhauer, welche, immer drei gleichzeitig, die Aufgabe hatten, Tag und Nacht den Hungerk"unstler zu beobachten, damit er nicht etwa auf irgendeine heimliche Weise doch Nahrung zu sich nehme. Es war das aber lediglich eine Formalit"at, eingef"uhrt zur Beruhigung der Massen, denn die Eingeweihten wussten wohl, dass der Hungerk"unstler w"ahrend der Hungerzeit niemals, unter keinen Umst"anden, selbst unter Zwang nicht, auch das Geringste nur gegessen h"atte; die Ehre seiner Kunst verbot dies. Freilich, nicht jeder W"achter konnte das begreifen, es fanden sich manchmal n"achtliche Wachgruppen, welche die Bewachung sehr lax durchf"uhrten, absichtlich in eine ferne Ecke sich zusammensetzten und dort sich ins Kartenspiel vertieften, in der offenbaren Absicht, dem Hungerk"unstler eine kleine Erfrischung zu g"onnen, die er ihrer Meinung nach aus irgendwelchen geheimen Vorr"aten hervorholen konnte. Nichts war dem Hungerk"unstler qu"alender als solche W"achter; sie machten ihn tr"ubselig; sie machten ihm das Hungern entsetzlich schwer; manchmal "uberwand er seine Schw"ache und sang w"ahrend dieser Wachzeit, solange er es nur aushielt, um den Leuten zu zeigen, wie ungerecht sie ihn verd"achtigten. Doch half das wenig; sie wunderten sich dann nur "uber seine Geschicklichkeit, selbst w"ahrend des Singens zu essen. Viel lieber waren ihm die W"achter, welche sich eng zum Gitter setzten, mit der tr"uben Nachtbeleuchtung des Saales sich nicht begn"ugten, sondern ihn mit den elektrischen Taschenlampen bestrahlten, die ihnen der Impresario zur Verf"ugung stellte. Das grelle Licht st"orte ihn gar nicht, schlafen konnte er ja "uberhaupt nicht, und ein wenig hind"ammern konnte er immer, bei jeder Beleuchtung und zu jeder Stunde, auch im "ubervollen, l"armenden Saal. Er war sehr gerne bereit, mit solchen W"achtern die Nacht g"anzlich ohne Schlaf zu verbringen; er war bereit, mit ihnen zu scherzen, ihnen Geschichten aus seinem Wanderleben zu erz"ahlen, dann wieder ihre Erz"ahlungen anzuh"oren, alles nur um sie wachzuhalten, um ihnen immer wieder zeigen zu k"onnen, dass er nichts Essbares im K"afig hatte und dass er hungerte, wie keiner von ihnen es k"onnte. Am gl"ucklichsten aber war er, wenn dann der Morgen kam, und ihnen auf seine Rechnung ein "uberreiches Fr"uhst"uck gebracht wurde, auf das sie sich warfen mit dem Appetit gesunder M"anner nach einer m"uhevoll durchwachten Nacht. Es gab zwar sogar Leute, die in diesem Fr"uhst"uck eine ungeb"uhrliche Beeinflussung der W"achter sehen wollten, aber das ging doch zu weit, und wenn man sie fragte, ob etwa sie nur um der Sache willen ohne Fr"uhst"uck die Nachtwache "ubernehmen wollten, verzogen sie sich, aber bei ihren Verd"achtigungen blieben sie dennoch.

Dieses allerdings geh"orte schon zu den vom Hungern "uberhaupt nicht zu trennenden Verd"achtigungen. Niemand war ja imstande, alle die Tage und N"achte beim Hungerk"unstler ununterbrochen als W"achter zu verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war; nur der Hungerk"unstler selbst konnte das wissen, nur er also gleichzeitig der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein. Er aber war wieder aus einem andern Grunde niemals befriedigt; vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert, dass manche zu ihrem Bedauern den Vorf"uhrungen fernbleiben mussten, weil sie seinen Anblick nicht ertrugen, sondern er war nur so abgemagert aus Unzufriedenheit mit sich selbst. Er allein n"amlich wusste, auch kein Eingeweihter sonst wusste das, wie leicht das Hungern war. Es war die leichteste Sache von der Welt. Er verschwieg es auch nicht, aber man glaubte ihm nicht, hielt ihn g"unstigstenfalls f"ur bescheiden, meist aber f"ur reklames"uchtig oder gar f"ur einen Schwindler, dem das Hungern allerdings leicht war, weil er es sich leicht zu machen verstand, und der auch noch die Stirn hatte, es halb zu gestehn. Das alles musste er hinnehmen, hatte sich auch im Laufe der Jahre daran gew"ohnt, aber innerlich nagte diese Unbefriedigtheit immer an ihm, und noch niemals, nach keiner Hungerperiode – dieses Zeugnis musste man ihm ausstellen – hatte er freiwillig den K"afig verlassen. Als H"ochstzeit f"ur das Hungern hatte der Impresario vierzig Tage festgesetzt, dar"uber hinaus liess er niemals hungern, auch in den Weltst"adten nicht, und zwar aus gutem Grund. Vierzig Tage etwa konnte man erfahrungsgem"ass durch allm"ahlich sich steigernde Reklame das Interesse einer Stadt immer mehr aufstacheln, dann aber versagte das Publikum, eine wesentliche Abnahme des Zuspruchs war festzustellen; es bestanden nat"urlich in dieser Hinsicht kleine Unterschiede zwischen den St"adten und L"andern, als Regel aber galt, dass vierzig Tage die H"ochstzeit war. Dann also am vierzigsten Tage wurde die T"ur des mit Blumen umkr"anzten K"afigs ge"offnet, eine begeisterte Zuschauerschaft erf"ullte das Amphitheater, eine Milit"arkapelle spielte, zwei "Arzte betraten den K"afig, um die n"otigen Messungen am Hungerk"unstler vorzunehmen, durch ein Megaphon wurden die Resultate dem Saale verk"undet, und schliesslich kamen zwei junge Damen, gl"ucklich dar"uber, dass gerade sie ausgelost worden waren, und wollten den Hungerk"unstler aus dem K"afig ein paar Stufen hinabf"uhren, wo auf einem kleinen Tischchen eine sorgf"altig ausgew"ahlte Krankenmahlzeit serviert war. Und in diesem Augenblick wehrte sich der Hungerk"unstler immer. Zwar legte er noch freiwillig seine Knochenarme in die hilfsbereit ausgestreckten H"ande der zu ihm hinabgebeugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. Warum gerade jetzt nach vierzig Tagen aufh"oren? Er h"atte es noch lange, unbeschr"ankt lange ausgehalten; warum gerade jetzt aufh"oren, wo er im besten, ja noch nicht einmal im besten Hungern war? Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der gr"osste Hungerk"unstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu "ubertreffen bis ins Unbegreifliche, denn f"ur seine F"ahigkeit zu hungern f"uhlte er keine Grenzen. Warum hatte diese Menge, die ihn so sehr zu bewundern vorgab, so wenig Geduld mit ihm; wenn er es aushielt, noch weiter zu hungern, warum wollte sie es nicht aushalten? Auch war er m"ude, sass gut im Stroh und sollte sich nun hoch und lang aufrichten und zu dem Essen gehn, das ihm schon allein in der Vorstellung "Ubelkeiten verursachte, deren "Ausserung er nur mit R"ucksicht auf die Damen m"uhselig unterdr"uckte. Und er blickte empor in die Augen der scheinbar so freundlichen, in Wirklichkeit so grausamen Damen und sch"uttelte den auf dem schwachen Halse "uberschweren Kopf. Aber dann geschah, was immer geschah. Der Impresario kam, hob stumm – die Musik machte das Reden unm"oglich – die Arme "uber dem Hungerk"unstler, so, als lade er den Himmel ein, sich sein Werk hier auf dem Stroh einmal anzusehn, diesen bedauernswerten M"artyrer, welcher der Hungerk"unstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn; fasste den Hungerk"unstler um die d"unne Taille, wobei er durch "ubertriebene Vorsicht glaubhaft machen wollte, mit einem wie gebrechlichen Ding er es hier zu tun habe; und "ubergab ihn – nicht ohne ihn im geheimen ein wenig zu sch"utteln, so dass der Hungerk"unstler mit den Beinen und dem Oberk"orper unbeherrscht hin und her schwankte – den inzwischen totenbleich gewordenen Damen. Nun duldete der Hungerk"unstler alles; der Kopf lag auf der Brust, es war, als sei er hingerollt und halte sich dort unerkl"arlich; der Leib war ausgeh"ohlt; die Beine dr"uckten sich im Selbsterhaltungstrieb fest in den Knien aneinander, scharrten aber doch den Boden, so, als sei es nicht der wirkliche, den wirklichen suchten sie erst; und die ganze, allerdings sehr kleine Last des K"orpers lag auf einer der Damen, welche hilfesuchend, mit fliegendem Atem – so hatte sie sich dieses Ehrenamt nicht vorgestellt – zuerst den Hals m"oglichst streckte, um wenigstens das Gesicht vor der Ber"uhrung mit dem Hungerk"unstler zu bewahren, dann aber, da ihr dies nicht gelang und ihre gl"ucklichere Gef"ahrtin ihr nicht zu Hilfe kam, sondern sich damit begn"ugte, zitternd die Hand des Hungerk"unstlers, dieses kleine Knochenb"undel, vor sich herzutragen, unter dem entz"uckten Gel"achter des Saales in Weinen ausbrach und von einem l"angst bereitgestellten Diener abgel"ost werden musste. Dann kam das Essen, von dem der Impresario dem Hungerk"unstler w"ahrend eines ohnmacht"ahnlichen Halbschlafes ein wenig einfl"osste, unter lustigem Plaudern, das die Aufmerksamkeit vom Zustand des Hungerk"unstlers ablenken sollte; dann wurde noch ein Trinkspruch auf das Publikum ausgebracht, welcher dem Impresario angeblich vom Hungerk"unstler zugefl"ustert worden war; das Orchester bekr"aftigte alles durch einen grossen Tusch, man ging auseinander, und niemand hatte das Recht, mit dem Gesehenen unzufrieden zu sein, niemand, nur der Hungerk"unstler, immer nur er.

So lebte er mit regelm"assigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei alledem aber meist in tr"uber Laune, die immer noch tr"uber wurde dadurch, dass niemand sie ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn auch tr"osten? Was blieb ihm zu w"unschen "ubrig? Und wenn sich einmal ein Gutm"utiger fand, der ihn bedauerte und ihm erkl"aren wollte, dass seine Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern k"ame, konnte es, besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit, geschehn, dass der Hungerk"unstler mit einem Wutausbruch antwortete und zum Schrecken aller wie ein Tier an dem Gitter zu r"utteln begann. Doch hatte f"ur solche Zust"ande der Impresario ein Strafmittel, das er gern anwandte. Er entschuldigte den Hungerk"unstler vor versammeltem Publikum, gab zu, dass nur die durch das Hungern hervorgerufene, f"ur satte Menschen nicht ohne weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerk"unstlers verzeihlich machen k"onne; kam dann im Zusammenhang damit auch auf die ebenso zu erkl"arende Behauptung des Hungerk"unstlers zu sprechen, er k"onnte noch viel l"anger hungern, als er hungere; lobte das hohe Streben, den guten Willen, die grosse Selbstverleugnung, die gewiss auch in dieser Behauptung enthalten seien; suchte dann aber die Behauptung einfach genug durch Vorzeigen von Photographien, die gleichzeitig verkauft wurden, zu widerlegen, denn auf den Bildern sah man den Hungerk"unstler an einem vierzigsten Hungertag, im Bett, fast verl"oscht vor Entkr"aftung. Diese dem Hungerk"unstler zwar wohlbekannte, immer aber von neuem ihn entnervende Verdrehung der Wahrheit war ihm zu viel. Was die Folge der vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte man hier als die Ursache dar! Gegen diesen Unverstand, gegen diese Welt des Unverstandes zu k"ampfen, war unm"oglich. Noch hatte er immer wieder in gutem Glauben begierig am Gitter dem Impresario zugeh"ort, beim Erscheinen der Photographien aber liess er das Gitter jedesmal los, sank mit Seufzen ins Stroh zur"uck, und das beruhigte Publikum konnte wieder herankommen und ihn besichtigen.

Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre sp"ater daran zur"uckdachten, wurden sie sich oft selbst unverst"andlich. Denn inzwischen war jener erw"ahnte Umschwung eingetreten; fast pl"otzlich war das geschehen; es mochte tiefere Gr"unde haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verw"ohnte Hungerk"unstler von der vergn"ugungss"uchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen str"omte. Noch einmal jagte der Impresario mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich nicht noch hie und da das alte Interesse wiederf"ande; alles vergeblich; wie in einem geheimen Einverst"andnis hatte sich "uberall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Nat"urlich hatte das in Wirklichkeit nicht pl"otzlich so kommen k"onnen, und man erinnerte sich jetzt nachtr"aglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge nicht gen"ugend beachtete, nicht gen"ugend unterdr"uckte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu sp"at. Zwar war es sicher, dass einmal auch f"ur das Hungern wieder die Zeit kommen werde, aber f"ur die Lebenden war das kein Trost. Was sollte nun der Hungerk"unstler tun? Der, welchen Tausende umjubelt hatten, konnte sich nicht in Schaubuden auf kleinen Jahrm"arkten zeigen, und um einen andern Beruf zu ergreifen, war der Hungerk"unstler nicht nur zu alt, sondern vor allem dem Hungern allzu fanatisch ergeben. So verabschiedete er denn den Impresario, den Genossen einer Laufbahn ohnegleichen, und liess sich von einem grossen Zirkus engagieren; um seine Empfindlichkeit zu schonen, sah er die Vertragsbedingungen gar nicht an.

Ein grosser Zirkus mit seiner Unzahl von einander immer wieder ausgleichenden und erg"anzenden Menschen und Tieren und Apparaten kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerk"unstler, bei entsprechend bescheidenen Anspr"uchen nat"urlich, und ausserdem war es ja in diesem besonderen Fall nicht nur der Hungerk"unstler selbst, der engagiert wurde, sondern auch sein alter ber"uhmter Name, ja man konnte bei der Eigenart dieser im zunehmenden Alter nicht abnehmenden Kunst nicht einmal sagen, dass ein ausgedienter, nicht mehr auf der H"ohe seines K"onnens stehender K"unstler sich in einen ruhigen Zirkusposten fl"uchten wolle, im Gegenteil, der Hungerk"unstler versicherte, dass er, was durchaus glaubw"urdig war, ebensogut hungere wie fr"uher, ja er behauptete sogar, er werde, wenn man ihm seinen Willen lasse, und dies versprach man ihm ohne weiteres, eigentlich erst jetzt die Welt in berechtigtes Erstaunen setzen, eine Behauptung allerdings, die mit R"ucksicht auf die Zeitstimmung, welche der Hungerk"unstler im Eifer leicht vergass, bei den Fachleuten nur ein L"acheln hervorrief.

Im Grunde aber verlor auch der Hungerk"unstler den Blick f"ur die wirklichen Verh"altnisse nicht und nahm es als selbstverst"andlich hin, dass man ihn mit seinem K"afig nicht etwa als Glanznummer mitten in die Manege stellte, sondern draussen an einem im "ubrigen recht gut zug"anglichen Ort in der N"ahe der Stallungen unterbrachte. Grosse, bunt gemalte Aufschriften umrahmten den K"afig und verk"undeten, was dort zu sehen war. Wenn das Publikum in den Pausen der Vorstellung zu den St"allen dr"angte, um die Tiere zu besichtigen, war es fast unvermeidlich, dass es beim Hungerk"unstler vor"uberkam und ein wenig dort haltmachte, man w"are vielleicht l"anger bei ihm geblieben, wenn nicht in dem schmalen Gang die Nachdr"angenden, welche diesen Aufenthalt auf dem Weg zu den ersehnten St"allen nicht verstanden, eine l"angere ruhige Betrachtung unm"oglich gemacht h"atten. Dieses war auch der Grund, warum der Hungerk"unstler vor diesen Besuchszeiten, die er als seinen Lebenszweck nat"urlich herbeiw"unschte, doch auch wieder zitterte. In der ersten Zeit hatte er die Vorstellungspausen kaum erwarten k"onnen; entz"uckt hatte er der sich heranw"alzenden Menge entgegengesehn, bis er sich nur zu bald – auch die hartn"ackigste, fast bewusste Selbstt"auschung hielt den Erfahrungen nicht stand – davon "uberzeugte, dass es zumeist der Absicht nach, immer wieder, ausnahmslos, lauter Stallbesucher waren. Und dieser Anblick von der Ferne blieb noch immer der sch"onste. Denn wenn sie bis zu ihm herangekommen waren, umtobte ihn sofort Geschrei und Schimpfen der ununterbrochen neu sich bildenden Parteien, jener, welche – sie wurde dem Hungerk"unstler bald die peinlichere – ihn bequem ansehen wollte, nicht etwa aus Verst"andnis, sondern aus Laune und Trotz, und jener zweiten, die zun"achst nur nach den St"allen verlangte. War der grosse Haufe vor"uber, dann kamen die Nachz"ugler, und diese allerdings, denen es nicht mehr verwehrt war, stehen zu bleiben, solange sie nur Lust hatten, eilten mit langen Schritten, fast ohne Seitenblick, vor"uber, um rechtzeitig zu den Tieren zu kommen. Und es war kein allzu h"aufiger Gl"ucksfall, dass ein Familienvater mit seinen Kindern kam, mit dem Finger auf den Hungerk"unstler zeigte, ausf"uhrlich erkl"arte, um was es sich hier handelte, von fr"uheren Jahren erz"ahlte, wo er bei "ahnlichen, aber unvergleichlich grossartigeren Vorf"uhrungen gewesen war, und dann die Kinder, wegen ihrer ungen"ugenden Vorbereitung von Schule und Leben her, zwar immer noch verst"andnislos blieben – was war ihnen Hungern? – aber doch in dem Glanz ihrer forschenden Augen etwas von neuen, kommenden, gn"adigeren Zeiten verrieten. Vielleicht, so sagte sich der Hungerk"unstler dann manchmal, w"urde alles doch ein wenig besser werden, wenn sein Standort nicht gar so nahe bei den St"allen w"are. Den Leuten wurde dadurch die Wahl zu leicht gemacht, nicht zu reden davon, dass ihn die Ausd"unstungen der St"alle, die Unruhe der Tiere in der Nacht, das Vor"ubertragen der rohen Fleischst"ucke f"ur die Raubtiere, die Schreie bei der F"utterung sehr verletzten und dauernd bedr"uckten. Aber bei der Direktion vorstellig zu werden, wagte er nicht; immerhin verdankte er ja den Tieren die Menge der Besucher, unter denen sich hie und da auch ein f"ur ihn Bestimmter finden konnte, und wer wusste, wohin man ihn verstecken w"urde, wenn er an seine Existenz erinnern wollte und damit auch daran, dass er, genau genommen, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den St"allen war.

Ein kleines Hindernis allerdings, ein immer kleiner werdendes Hindernis. Man gew"ohnte sich an die Sonderbarkeit, in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit f"ur einen Hungerk"unstler beanspruchen zu wollen, und mit dieser Gew"ohnung war das Urteil "uber ihn gesprochen. Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vor"uber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erkl"aren! Wer es nicht f"uhlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. Die sch"onen Aufschriften wurden schmutzig und unleserlich, man riss sie herunter, niemandem fiel es ein, sie zu ersetzen; das T"afelchen mit der Ziffer der abgeleisteten Hungertage, das in der ersten Zeit sorgf"altig t"aglich erneut worden war, blieb schon l"angst immer das gleiche, denn nach den ersten Wochen war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit "uberdr"ussig geworden; und so hungerte zwar der Hungerk"unstler weiter, wie er es fr"uher einmal ertr"aumt hatte, und es gelang ihm ohne M"uhe ganz so, wie er es damals vorausgesagt hatte, aber niemand z"ahlte die Tage, niemand, nicht einmal der Hungerk"unstler selbst wusste, wie gross die Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer. Und wenn einmal in der Zeit ein M"ussigg"anger stehen blieb, sich "uber die alte Ziffer lustig machte und von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die d"ummste L"uge, welche Gleichg"ultigkeit und eingeborene B"osartigkeit erfinden konnte, denn nicht der Hungerk"unstler betrog, er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog ihn um seinen Lohn.

Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der K"afig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren K"afig mit dem verfaulten Stroh drinnen unben"utzt stehen lasse; niemand wusste es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerk"unstler erinnerte. Man r"uhrte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerk"unstler darin. "Du hungerst noch immer?" fragte der Aufseher, "wann wirst du denn endlich aufh"oren?" "Verzeiht mir alle", fl"usterte der Hungerk"unstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. "Gewiss", sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerk"unstlers dem Personal anzudeuten, "wir verzeihen dir. " "Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert", sagte der Hungerk"unstler. "Wir bewundern es auch", sagte der Aufseher entgegenkommend. "Ihr sollt es aber nicht bewundern", sagte der Hungerk"unstler. "Nun, dann bewundern wir es also nicht", sagte der Aufseher, "warum sollen wir es denn nicht bewundern?" "Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders", sagte der Hungerk"unstler. "Da sieh mal einer", sagte der Aufseher, "warum kannst du denn nicht anders?" "Weil ich", sagte der Hungerk"unstler, hob das K"opfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, "weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. H"atte ich sie gefunden, glaube mir, ich h"atte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle. " Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze "Uberzeugung, dass er weiterhungre.

"Nun macht aber Ordnung! " sagte der Aufseher, und man begrub den Hungerk"unstler samt dem Stroh. In den K"afig aber gab man einen jungen Panther. Es war eine selbst dem stumpfsten Sinn f"uhlbare Erholung, in dem so lange "oden K"afig dieses wilde Tier sich herumwerfen zu sehn. Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die W"achter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem N"otigen bis knapp zum Zerreissen ausgestattete K"orper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiss schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, dass es f"ur die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten. Aber sie "uberwanden sich, umdr"angten den K"afig und wollten sich gar nicht fortr"uhren.

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