Письмо незнакомки / Brief einer Unbekannten
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Die ganze Welt, sie existierte nur in Beziehung auf Dich. Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde siebzehn, wurde achtzehn Jahre – die jungen Leute begannen sich auf der Strasse nach mir umzublicken, doch sie erbitterten [42] mich nur. Mein ganzes Denken war in eine Richtung gespannt: zur"uck nach Wien, zur"uck zu Dir.
Mein Stiefvater war verm"ogend [43] , er betrachtete mich als sein eigenes Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein Geld selbst verdienen, und erreichte es endlich, dass ich in Wien zu einem Verwandten als Angestellte eines grossen Konfektionsgesch"aftes kam. Muss ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als ich an einem nebligen Herbstabend – endlich! endlich! – in Wien ankam?
42
erbitten – ожесточать
43
verm"ogend – состоятельный, зажиточный
Ich liess die Koffer an der Bahn, st"urzte mich in eine Strassenbahn und lief vor das Haus. Deine Fenster waren erleuchtet, mein ganzes Herz klang. Ich sah nur empor [44] und empor: da war Licht, da war das Haus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahre hatte ich von dieser Stunde getr"aumt, nun war sie mir geschenkt. Ich stand den langen, weichen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.
Dann suchte ich erst mein Heim. Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bis sechs Uhr hatte ich Dienst im Gesch"aft, harten, anstrengenden Dienst, aber er war mir lieb, denn diese Unruhe liess mich die eigene nicht so schmerzhaft f"uhlen. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dir begegnen, das war mein einziger Wille, nur wieder einmal mit dem Blick Dein Gesicht umfassen [45] d"urfen von ferne. Etwa nach einer Woche geschah dann endlich, dass ich Dir begegnete, und zwar gerade in einem Augenblick, wo ich es nicht vermutete: w"ahrend ich eben hinauf zu Deinen Fenstern sp"ahte [46] , kamst Du quer "uber die Strasse. Und pl"otzlich war ich wieder das Kind, das dreizehnj"ahrige, ich f"uhlte, wie das Blut mir in die Wangen schoss; unwillk"urlich, wider meinen innersten Drang, der sich sehnte, Deine Augen zu f"uhlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell an Dir vorbei. Nachher sch"amte ich mich dieser schulm"adelhaften Flucht [47] , denn jetzt war mein Wille mir doch klar: ich wollte Dir ja begegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir erkannt sein, wollte von Dir beachtet, wollte von Dir geliebt sein.
44
empor –
45
mit dem Blick Dein Gesicht umfassen – охватить взглядом твоё лицо
46
sp"ahen – подсматривать
47
Flucht, f – бегство
Aber Du bemerktest mich lange nicht. Oft wartete ich stundenlang vergebens, oft gingst Du dann endlich vom Hause in Begleitung von Bekannten fort, zweimal sah ich Dich auch mit Frauen, und nun empfand ich mein Erwachsensein, empfand das Neue, Andere meines Gef"uhls zu Dir an dem pl"otzlichen Herzzucken, das mir quer die Seele zerriss, als ich eine fremde Frau so sicher Arm in Arm mit Dir hingehen sah. Und endlich, an einem Abend bemerktest Du mich. Unwillk"urlich [48] streifte mich Dein zerstreuter [49] Blick, um sofort, kaum dass er der Aufmerksamkeit des meinen begegnete – wie erschrak die Erinnerung in mir! – jener Dein Frauenblick, jener z"artliche [50] , h"ullende [51] und gleichzeitig enth"ullende Blick zu werden, der mich, das Kind, zum ersten Mal zur Frau, zur Liebenden erweckt. Ein, zwei Sekunden lang hielt dieser Blick so den meinen, der sich nicht wegreissen konnte und wollte – dann warst Du an mir vorbei.
48
unwillk"urlich – непреднамеренно
49
zerstreuter – рассеянный
50
z"artlich – нежный
51
h"ullen – обволакивать, укутывать
Mir schlug das Herz: unwillk"urlich musste ich meinen Schritt verlangsamen, und wie ich aus einer nicht zu bezwingenden Neugier mich umwandte, sah ich, dass Du stehen geblieben warst und mir nachsahst. Und an der Art, wie Du neugierig interessiert mich beobachtetest, wusste ich sofort: Du erkanntest mich nicht. Du erkanntest mich nicht, damals nicht, nie, nie hast Du mich erkannt.
Wie soll ich sie Dir schildern, diese Entt"auschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahren in Innsbruck, wo ich jede Stunde an Dich dachte und nichts tat, als mir unsere erste Wiederbegegnung in Wien auszudenken. Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tage sp"ater Dein Blick mit einer gewissen Vertrautheit bei erneuter Begegnung mich umfing, da erkanntest Du mich als das h"ubsche achtzehnj"ahrige M"adchen, das Dir vor zwei Tagen an der gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst mich freundlich "uberrascht an, ein leichtes L"acheln umspielte Deinen Mund. Wieder gingst Du an mir vorbei und wieder den Schritt sofort verlangsamend. Ich f"uhlte, dass ich zum ersten Mal f"ur Dich lebendig war. Und pl"otzlich sp"urte ich Dich hinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wusste, nun w"urde ich zum ersten Mal Deine geliebte Stimme an mich gerichtet h"oren. Da tr"atest Du an meine Seite. Du sprachst mich an mit Deiner leichten heitern Art, als w"aren wir lange befreundet. Wir gingen zusammen die ganze Gasse entlang. Dann fragtest Du mich, ob wir gemeinsam speisen wollten. Ich sagte ja. Was h"atte ich Dir gewagt zu verneinen [52] ? Wir speisten zusammen in einem kleinen Restaurant – weisst Du noch, wo es war? Ach nein, Du unterscheidest es gewiss nicht mehr von andern solchen Abenden, denn wer war ich Dir? Eine unter Hunderten. Keinen Augenblick davon wollte ich durch eine Frage vergeuden [53] . Nie werde ich Dir von dieser Stunde dankbar vergessen. Ach, Du weisst ja nicht, ein wie Ungeheures Du erf"ulltest, indem Du mir f"unf Jahre kindischer Erwartung nicht entt"auschtest!
52
verneinen – отрицать
53
keinen Augenblick vergeuden – не потерять ни одного мгновения
Es wurde sp"at, wir brachen auf. An der T"ur des Restaurants fragtest Du mich, ob ich noch Zeit h"atte. Ich sagte, ich h"atte noch Zeit, Dann fragtest Du, ob ich nicht noch ein wenig zu Dir kommen wollte, um zu plaudern. „Gerne“, sagte ich und merkte sofort, dass Du von der Raschheit meiner Zusage irgendwie sichtlich "uberrascht. Ich weiss, dass vielleicht nur die Professionellen der Liebe eine solche Einladung mit einer so vollen freudigen Zustimmung beantworten, oder ganz naive, ganz halbw"uchsige Kinder. In mir aber war es – und wie konntest Du das ahnen – nur der starke Wille. Jedenfalls aber ich begann Dich zu interessieren. Ich sp"urte, dass Du, w"ahrend wir gingen, von der Seite her w"ahrend des Gespr"aches mich irgendwie erstaunt mustertest [54] . Der Neugierige in Dir war wach, und ich merkte wie Du nach dem Geheimnis tasten wolltest. Aber ich wollte lieber t"oricht erscheinen als Dir mein Geheimnis verraten. Wir gingen zu Dir hinauf.
54
mustern,vt –
разглядыватьVerzeih, Geliebter, wenn ich Dir sage, dass Du es nicht verstehen kannst, was dieser Gang, diese Treppe f"ur mich waren, fast t"odliches Gl"uck. Die ganze Kindheit, meine ganze Leidenschaft, da nistete sie ja in diesen paar Metern Raum, hier war mein ganzes Leben, und jetzt fiel es nieder auf mich wie ein Sturm, da alles, alles sich erf"ullte und ich ging mit Dir in unserem Hause. Ich blieb damals die ganze Nacht bei Dir. Du hast es nicht geahnt, dass vordem noch nie ein Mann mich ber"uhrt, noch keiner meinen K"orper gef"uhlt oder gesehen. Aber wie konntest Du es auch ahnen, Geliebter, denn ich bot Dir ja keinen Widerstand [55] , ich unterdr"uckte jedes Z"ogern [56] der Scham, nur damit Du nicht das Geheimnis meiner Liebe zu Dir erraten k"onntest.
55
Widerstand, m – сопротивление
56
Z"ogern, n – сопротивление, отпор
Am Morgen dr"angte ich fr"uhzeitig schon fort. Ich musste in das Gesch"aft und wollte auch gehen, ehe der Diener k"ame: er sollte mich nicht sehen. Als ich angezogen vor Dir stand, nahmst Du mich in den Arm, sahst mich lange an; war es ein Erinnern, dunkel und fern, das in Dir wogte, oder schien ich Dir nur sch"on, begl"uckt, wie ich war? Dann k"usstest du mich auf den Mund. Ich machte mich leise los und wollte gehen. Da fragtest Du: „Willst Du nicht ein paar Blumen mitnehmen?“ Ich sagte ja. Du nahmst vier weisse Rosen aus der blauen Kristallvase am Schreibtisch und gabst sie mir. Tagelang habe ich sie noch gek"usst. Wir hatten zuvor einen andern Abend verabredet. Ich kam, und wieder war es wunderbar. Noch eine dritte Nacht hast Du mir geschenkt. Dann sagtest Du, Du m"usstest verreisen. Ich gab Dir eine Poste restante-Adresse – meinen Namen wollte ich Dir nicht sagen. Ich h"utete mein Geheimnis [57] . Wieder gabst Du mir ein paar Rosen zum Abschied.
57
ein Geheimnis H"uten – оберегать тайну
Jeden Tag w"ahrend zweier Monate fragte ich… aber nein, wozu diese H"ollenqual [58] der Erwartung. Ich klage Dich nicht an, ich liebe Dich als den, der Du bist. Du warst l"angst zur"uck, ich sah es an Deinen erleuchteten Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. Ich habe gewartet, ich habe gewartet wie eine verzweifelte [59] .
Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Du mir geschrieben… keine Zeile…
58
H"ollenqual, f – мука
59
verzweifelte – отчаявшаяся
Mein Kind ist gestern gestorben – es war auch Dein Kind. Es war auch Dein Kind, Geliebter, das Kind einer jener drei N"achte, ich schw"ore es Dir, und man l"ugt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind, ich schw"ore es Dir, denn kein Mann hat mich ber"uhrt von jenen Stunden, da ich mich Dir hingegeben.
Es war unser Kind, Geliebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deiner sorglosen, fast unbewussten Z"artlichkeit, unser Kind, unser Sohn, unser einziges Kind. Aber Du fragst nun – vielleicht erschreckt, vielleicht bloss erstaunt, – Du fragst nun, mein Geliebter, warum ich dies Kind Dir alle diese langen Jahre verschwiegen und erst heute von ihm spreche! Doch wie h"atte ich es Dir sagen k"onnen? Nie h"attest Du mir, der Fremden, der allzu Bereitwilligen dreier N"achte geglaubt. Und dann, ich kenne Dich; ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dich kennst… Du h"attest mich – ja, ich weiss es, dass Du es getan h"attest, wider Deinen eigenen wachen Willen, – Du h"attest mich gehasst f"ur dieses Verbund.
Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ich klage Dich nicht an. Verzeih mir, wenn mir manchmal ein Tropfen Bitternis in die Feder fliesst.
Ich weiss ja, dass Du gut bist und hilfreich im tiefsten Herzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten, der Dich bittet. Aber Deine G"ute ist so sonderbar, aber sie ist – verzeih mir – sie ist tr"age. [60] Du hilfst, wenn man Dich ruft, Dich bittet, hilfst aus Scham, aus Schw"ache und nicht aus Freudigkeit. Einmal, ich war noch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an der T"ur, wie Du einem Bettler [61] etwas gabst. Du gabst ihm rasch und sogar viel, noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm mit einer gewissen Angst und Hast hin, er m"ochte nur bald wieder fortgehen, es war, als h"attest Du Furcht, ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige, scheue, vor der Dankbarkeit fl"uchtende Art des Helfens habe ich nie vergessen. Und deshalb habe ich mich nie an Dich gewandt. Ich weiss, du h"attest mir damals zur Seite gestanden auch ohne die Gewissheit, es sei Dein Kind, Du h"attest mich getr"ostet, mir Geld gegeben, reichlich Geld, aber immer nur mit der geheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir wegzuschieben.
60
tr"age – ленивый
61
Bettler, m – нищий
Aber dieses Kind war alles f"ur mich, war es doch von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Gl"uckliche, der Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du f"ur immer – so meinte ich – mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe [62] , verbunden in meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich, Dein Leben wachsen sp"uren in meinen Adern [63] , Dich tr"anken, Dich liebkosen, Dich k"ussen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst du, Geliebter, darum war ich so selig [64] , als ich wusste, dass ich ein Kind von Dir hatte, darum verschwieg ich Dir es: denn nun konntest du mir nicht mehr entfliehen. Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie voraus f"uhlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll Grauen und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit [65] der Menschen. Ich hatte es nicht leicht. In das Gesch"aft konnte ich w"ahrend der letzten Monate nicht mehr gehen, damit es den Verwandten nicht auff"allig werde und sie nicht nach Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten – so fristete [66] ich mir mit dem Verkauf von dem bisschen Schmuck, den ich hatte…
62
Leib, m – тело
63
Adern, f, -n – вена
64
selig – счастливый, блаженный
65
Niedrigkeit, f – низость, подлость
66
fristen – перебиваться