Письмо незнакомки / Brief einer Unbekannten
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Oh, ich war mir ganz der Niedrigkeit, der Undankbarkeit, der Sch"andlichkeit, die ich gegen einen ehrlichen Freund beging, im Tiefsten bewusst. Ich f"uhlte, dass ich l"acherlich handelte und mit meinem Wahn einen g"utigen Menschen f"ur immer t"odlich kr"ankte. Ich f"uhlte, dass ich mein Leben mitten entzweiriss [92] – aber was war mir Freundschaft, was meine Existenz gegen die Ungeduld, wieder einmal Deine Lippen zu f"uhlen, Dein Wort weich gegen mich gesprochen zu h"oren. So habe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, da alles vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefest Du mich von meinem Sterbebette, so k"ame mir pl"otzlich die Kraft, aufzustehen und mit Dir zu gehen.
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entzweireissen – разрывать (пополам)
Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zu Dir. Ich h"orte wieder Deine Stimme, ich f"uhlte Deine z"artliche N"ahe und war genau so bet"aubt, so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr als zehn Jahren, zum ersten Mal wieder die Treppe empor – nein, nein, ich kann Dir es nicht schildern, wie ich alles immer doppelt f"uhlte in jenen Sekunden, vergangene Zeit und Gegenwart, und in allem und allem immer nur Dich.
In Deinem Zimmer war weniges anders, ein paar Bilder mehr, und mehr B"ucher, da und dort fremde M"obel, aber alles doch gr"usste mich vertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit den Rosen darin – mit meinen Rosen, die ich Dir tags vorher zu Deinem Geburtstag geschickt als Erinnerung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest, die Du doch nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dir nahe war, Hand in Hand und Lippe an Lippe. Aber doch: es tat mir wohl, dass Du die Blumen hegtest [93] : so war doch ein Hauch [94] meines Wesens, ein Atem meiner Liebe um Dich.
93
hegen –
94
Hauch, m – дыхание
Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich bei Dir eine ganze herrliche Nacht. Aber auch im nackten Leibe erkanntest Du mich nicht. Selig erlitt ich Deine wissenden Z"artlichkeiten und sah, dass Deine Leidenschaft keinen Unterschied macht zwischen einer Geliebten und einer K"auflichen. Du warst so z"artlich und lind [95] zu mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vornehm und so herzlich-achtungsvoll und doch gleichzeitig so leidenschaftlich im Geniessen der Frau. Wieder f"uhlte ich diese einzige Zweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistige Leidenschaft in der sinnlichen, die schon das Kind Dir h"orig gemacht. Nie habe ich bei einem Manne in der Z"artlichkeit solche Hingabe an den Augenblick gekannt – freilich um dann hinzul"oschen in eine fast unmenschliche Vergesslichkeit.
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lind – чуткий, мягкий
Aber auch ich vergass mich selbst. Wer war ich nun im Dunkel neben Dir? War ich, das brennende Kind von einst, war ich, die Mutter Deines Kindes, war ich, die Fremde? Ach, es war so vertraut, so erlebt alles, und alles wieder so rauschend neu in dieser leidenschaftlichen Nacht. Und ich betete, sie m"ochte kein Ende nehmen [96] .
Aber der Morgen kam, wir standen sp"at auf, Du ladest mich ein, noch mit Dir zu fr"uhst"ucken. Wir tranken zusammen den Tee und plauderten. Wieder sprachst Du mit der ganzen offenen, herzlichen Vertraulichkeit Deines Wesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten Fragen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war. Du fragtest nicht nach meinem Namen, nicht nach meiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur das Abenteuer, das Namenlose, die heisse Stunde, die im Rauch des Vergessens spurlos sich l"ost.
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kein Ende nehmen – не было конца
Du erz"ahltest, dass Du jetzt weit weg reisen wolltest, nach Nordafrika f"ur zwei oder drei Monate: ich zitterte mitten in meinem Gl"uck, denn schon h"ammerte es mir in den Ohren: vorbei, vorbei und vergessen! Am liebsten w"are ich hin zu Deinen Knien gest"urzt und h"atte geschrien: „Nimm mich mit, damit Du mich endlich erkennst, endlich, endlich nach so vielen Jahren!“ Aber ich war ja so scheu, so schwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: „Wie schade.“ Du sahst mich l"achelnd an: „Ist es Dir wirklich leid?“ Da fasste es mich wie eine pl"otzliche Wildheit [97] . Ich stand auf, sah Dich an, lange und fest. Dann sagte ich: „Der Mann, den ich liebte, ist auch immer weggereist.“ Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges. „Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!“ zitterte alles in mir. Aber Du l"acheltest mir entgegen und sagtest tr"ostend: „Man kommt ja wieder zur"uck.“
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Wildheit, f – буйство
„Ja“, antwortete ich, „man kommt zur"uck, aber dann hat man vergessen.“
Es muss etwas Absonderliches [98] , etwas Leidenschaftliches in der Art gewesen sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du st"andest auf und sahst mich an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern. „Was gut ist, vergisst sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen“, sagtest Du, und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als wollte er dies Bild sich festpr"agen. Und wie ich diesen Blick in mich eindringen f"uhlte, da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in dem Gedanken.
98
absonderlich –
странныйAber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst – sonst h"attest Du nie tun k"onnen, was Du wenige Minuten sp"ater t"atest. Du hast mich gek"usst, noch einmal leidenschaftlich gek"usst. Ich musste mein Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und w"ahrend ich vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel – und ich glaubte hinsinken zu m"ussen vor Scham und Entsetzen – da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paargr"ossere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie habe ich vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu schlagen in dieser Sekunde – mich, die ich Dich liebte von Kindheit an, die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du f"ur diese Nacht! Eine Dirne aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr – bezahlt, bezahlt hast Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen zu werden, ich musste noch erniedrigt sein.
Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch neben der Vase mit den weissen Rosen, meinen Rosen. Da erfasste es mich m"achtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu erinnern. „M"ochtest Du mir nicht von Deinen weissen Rosen eine geben?“ „Gern“, sagtest Du und nahmst sie sofort. „Aber sie sind Dir vielleicht von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?“ sagte ich. „Vielleicht“, sagtest Du, „ich weiss es nicht. Sie sind mir gegeben, und ich weiss nicht von wem; darum liebe ich sie so.“ Ich sah Dich an. „Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!“ Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. „Erkenne mich, erkenne mich endlich!“ schrie mein Blick. Aber Dein Auge l"achelte freundlich und unwissend. Du k"usstest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.
Ich ging rasch zur T"ur, denn ich sp"urte, dass mir Tr"anen in die Augen schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer – so hastig war ich hinausgeeilt – stiess ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen. Scheu und eilfertig [99] sprang er zur Seite, riss die Haust"ur auf, um mich hinauszulassen, und da – in dieser einen, h"orst Du? in dieser einen Sekunde, da ich ihn ansah, mit tr"anenden Augen ansah, den gealterten Mann, da zuckte ihm pl"otzlich ein Licht in den Blick.
99
eilfertig – поспешно
In dieser einen Sekunde, h"orst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich h"atte hinknien k"onnen vor ihm f"ur dieses Erkennen und ihm die H"ande k"ussen. So riss ich nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeisselt, rasch aus dem Muff und steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf – in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen Leben. Alle, alle Menschen haben mich verw"ohnt, alle waren zu mir g"utig – nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie erkannt!
Mein Kind ist gestorben, unser Kind – jetzt habe ich niemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals, niemals erkennst, der an mir vor"ubergeht wie an einem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich l"asst in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten, Dich, den Fl"uchtigen [100] , in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: "uber Nacht ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen und kehrt nie zur"uck. Ich bin wieder allein, mehr allein als jemals, nichts habe ich, nichts von Dir – kein Kind mehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen w"urde vor Dir, Du h"ortest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. F"urchte nicht, dass ich Dich weiter bedr"ange – verzeih mir, ich musste mir einmal die Seele ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. Nur dies eine Mal musste ich sprechen zu Dir – dann gehe ich wieder stumm in mein Dunkel zur"uck, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber du wirst diesen Schrei nicht h"oren, solange ich lebe – nur wenn ich tot bin, empf"angst Du dies Verm"achtnis von mir, von einer, die Dich mehr geliebt als alle und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum ersten Mal, ich werde Dich nicht mehr h"oren aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen, niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nicht rufen in meiner letzten Stunde, ich gehe fort, ohne dass Du meinen Namen weisst und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du f"uhlst es nicht von ferne. T"ate es Dir weh, dass ich sterbe, so k"onnte ich nicht sterben.
100
fl"uchtig – неуловимый, мимолётный