Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах
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F"ur das neue diachrone Ordnungsdenken steht das Modell der Geschichtserz"ahlung, und zwar einer Geschichte im Singular, die alle Geschichten im Plural, wie man sie in der Vormoderne verzeichnete, aufsaugt, verdaut und daraus einen ununterbrochenen Faden der Koh"arenz spinnt. Ordnung offenbart sich nicht in synchroner Systematik, sondern in historischen Entwicklungen, besser in „der“ historischen Entwicklung "uberhaupt.
Daf"ur schloss man die "uberlieferten Daten, Fakten und Einzelgeschichten grossr"aumig zu einem Ganzen zusammen, das im 18. Jahrhundert „Universalgeschichte“ hiess. In einem strukturierten Zeitkontinuum erz"ahlt Universalgeschichte im 18. Jahrhundert von der „Vervollkommnung des Menschengeschlechts“, organisiert die eine Geschichte also als ganzheitlichen, sich langsam entfaltenden Sinnzusammenhang.
Im Journal meiner Reise im Jahre 1769 beschw"ort Herder den holistischen Zuschnitt einer entstehenden Universalgeschichte:
Welch ein Werk "uber das Menschliche Geschlecht! den Menschlichen Geist! die Cultur der Erde! aller R"aume! Zeiten! V"olker! Kr"afte! Mischungen! Gestalten! […] Grosses Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis dass es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt! [Herder 1877–1913, IV/353]
Nur einige Jahrzehnte sp"ater differenziert sich aus der Universalgeschichte die Kunst- und Literaturgeschichte aus, doch das holistischmetaphysische Erbe bleibt auch dieser unver"andert eingeschrieben. In seiner Abhandlung „Begriff einer Geschichte der Kunst und ihre Beziehung auf die Theorie“ von 1801/02 wiederholt August Wilhelm Schlegel fast w"ortlich Herders Emphase: „Folglich ist alle Geschichte Bildungsgeschichte der Menschheit“. Geschichte sei „Evolution des menschlichen Geistes“, sie zeuge von einem „unendliche[n] Fortschritt“, der sich aber nur bei der Betrachtung des Ganzen zeige. Es gelte: „nur im Ganzen darf die Beziehung auf eine Idee liegen“ [Schlegel, A. W. 1975: 68].
Zwei Jahre sp"ater beschw"ort Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz „Geschichte der europ"aischen Literatur“ deren inneren organischen Zusammenhang:
Dieser ausserordentliche Umfang [der europ"aischen Literatur] macht die IDEE DES GANZEN notwendig […]. Die europ"aische Literatur bil-det ein zusammenh"angendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gr"undet, durch dieses erkl"art und erg"anzt wird. Dies geht durch alle Zeiten und Nationen herab bis auf unsere Zeiten. Das Neueste ist aber ohne das Alte nicht verst"andlich [Schlegel, F. 1975: 78].
Man meint, hier bereits Ernst Robert Curtius zu h"oren:
Die europ"aische Literatur ist der europ"aischen Kultur zeitlich koextensiv, umfasst also einen Zeitraum von etwa sechsundzwanzig Jahrhunderten […]. Man erwirbt das B"urgerrecht im Reiche der europ"aischen Literatur nur, wenn man viele Jahre in jeder seiner Provinzen geweilt hat und viele Male die eine mit der anderen vertauscht hat [Curtius 1978: 22].
In den 1990er Jahren unternahm es Aleksandr Michajlov, dem westeurop"aischen, speziell dem deutschsprachigen Publikum die russische Literaturwissenschaft zu erkl"aren. Sein Ansatz war "uberaus subtil. Sein Bericht „Zum heutigen Stand der Germanistik in Russland“ von 1995 beginnt unter der ersten Zwischen"uberschrift „Das Ganze […]“:
Man versteht das Wissen in Russland gern als ein Ganzes und legt deswegen einen besonderen Wert auf das Fach"ubergreifende […] Man verstand und versteht noch das Ganze des Wissens […] als ein „organisches“ Ganzes (ein in der russischen Philosophie an der Wende zum 20. Jahrhundert besonders arg strapazierter Begriff), der in sich selbst besteht […] [Michajlov 1995: 188].
Das trifft ganz und gar auf den Gr"undungsvater der russischen Komparatistik, die methodisch in viele Einzelphilologien ausstrahlte, zu, n"amlich auf Aleksandr Veselovskij. Seine Historische Poetik versteht sich dezidiert als Evolutionsgeschichte, als Wissenschaft von den „einfachste[n] poetische[n] Formen“, die als ‚Motive‘, komplexer dann als ‚Sujets‘ „typische[] Schemata“ bildeten, so dass sich Literaturgeschichte als „Evolutionsschema der Sujethaftigkeit“ [Veselovskij 2009: 1, 2, 5] entfalten lasse. Aleksej Zerebin hat diesen holistischen Ansatz Veselovskijs als „eine Art Formgeschichte der Weltliteratur“ [Zerebin 2013: 267] charakterisiert.
Veselovskij entwickelte seine Historische Poetik, nachdem er einige Jahrzehnte Entscheidendes zur europ"aischen M"archen- und Mythenforschung beigetragen hatte. Um Parallelph"anomene in der M"archenliteratur zu erkl"aren, bediente man sich in der zweiten H"alfte des 19. Jahrhunderts dreier unterschiedlicher Narrative, die f"ur drei methodologische Ans"atze stehen: Entweder wurden Parallelen unter dem Begriff ‚Archaik‘ anthropologisch aus Urformen der Mythologie hergeleitet oder aber geographisch-historisch aus dem Prinzip der ‚Migration‘ erkl"art oder schliesslich unter der Kategorie ‚Polygenese‘ aus vergleich-baren Entstehungsumst"anden ohne direkten interkulturellen Kontakt abgeleitet. Egal, welches Narrativ bedient wurde, allen Ans"atzen eignet ein universalhistorisch-holistischer Ansatz des Ganzen der Kultur, der eine Ordnungsstruktur eingeschrieben ist, die sich in Evolutionsgesetzen fassen l"asst.
Michajlov referiert diesen holistischen Grundzug der russischen Literaturwissenschaft mit einem stillen ironischen Genuss. In allen aktuellen westlichen Diskursen war er derart bewandert, dass er genau wusste, wie sein Zielpublikum auf diesen offen substantialistischen Begriff reagieren musste, dass dessen stets aktive poststrukturalistische Virenscanner auf „das Ganze“ sofort reagieren w"urden. Dennoch distanziert er sich nicht davon, im Gegenteil. Seine Erz"ahlungen davon, dass im russischen Umfeld „Nur-Germanisten“ kaum gedeihen konnten, dass man als Vertreter viel gr"osserer Einheiten, wie sie Veselovskij und Curtius vorschwebten, sein Fach auch gelegentlich wechseln konnte, indem man zum Beispiel wie Viktor Zirmunskij aus der Germanistik in die Indogermanistik fl"uchtete, best"atigen den holistischen Ansatz eher.
Noch bei Michajlov gilt also, dass von ‚Evolution‘ nur derjenige reden kann, der die holistisch-metaphysischen Pr"amissen dieses Begriffs bewusst akzeptiert. Gilt das auch f"ur die klassischen Evolutionstheoretiker, f"ur Ejchenbaum, Sklovskij, Tynjanov und ihre Mitstreiter? Ich meine, es gilt ganz uneingeschr"ankt.
In seinem Aufsatz „Theorie der formalen Methode“ von 1925 definiert Ejchenbaum die sogenannte formale Schule diskurstheoretisch, n"amlich "uber das, was er und andere in den letzten zwanzig Jahren betrieben h"atten, oder anders gewendet: "uber die Evolution der formalen Schule. Im Kern ging es darum, die eigentliche Wissenschaft von der Literatur "uberhaupt erst zu erfinden oder doch zumindest neu zu definieren. Das geschah "uber die Definition des Gegenstands der Literaturwissenschaft, nicht "uber ihre Methode. Der Gegenstandsbereich formaler Literaturwissenschaft ist ein doppelter. Einerseits liegt er in der artifiziellen Gemachtheit des poetischen Texts, in seiner Literarizit"at und "Asthetizit"at. Das hat nur indirekt mit Evolution zu tun. Der zweite Gegenstandsbereich liegt in einer neuen Art, Literaturgeschichte zu konstruieren. Was unterscheidet die „literarische Reihe“ [Ejchenbaum 1965: 14] von anderen Reihen kulturgeschichtlicher Fakten, so lautete die zentrale Frage. Dass die universalgeschichtliche Betrachtung der Kultur als Ganzer unaufl"oslich mit der Literaturgeschichte verwoben sei, wurde im Sinne Veselovskijs wie der deutschen Kunstwissenschaft W"olfflins und anderer ausdr"ucklich anerkannt [vgl. Ejchenbaum 1965: 13, 10]. Nur sei dieses Ganze Gegenstand eines grossen Ensembles von Wissenschaften, 3 die jedoch aus den m"oglichen Reihenbildungen kulturgeschichtlicher Fakten ihre jeweils eigene klar ausdifferenzieren m"ussten, um sich disziplin"ar voneinander zu unterscheiden. So gesehen postulierte Ejchenbaum zu seiner Zeit genau das Gegenteil von dem, was wir als „cultural turn“, als transdisziplin"aren Zusammenschluss von Wissenschaftsdisziplinen zun"achst gefeiert, dann aber eventuell im Zuge der „Rephilologisierung“ verworfen haben.
3
[Ejchenbaum 1965: 14]: „Statt einer Wissenschaft von der Literatur entstand ein Konglomerat hausgemachter Disziplinen.“
Die literaturgeschichtliche Reihe repr"asentiert nach Ejchenbaum und Sklovskij die „literarische[] Evolution“, die aus der „Dynamik der Gattungen“ hervorgeht, die sich in einem Prozess von Kanonisierung und Entkanonisierung unausgesetzt dialektisch neu erzeugen [vgl. Ejchenbaum 1965, 47]. Was sich zun"achst so ph"anomenologisch ausnimmt, ist aber im Kern holistisch gemeint: „Uns kommt es darauf an, in der Evolution Anzeichen f"ur eine geschichtliche Gesetzm"assigkeit aufzusp"uren“; es geht um „das Problem der Evolution ausserhalb der Person, [um] die Bestimmung der Literatur als eines eigent"umlichen Sozialph"anomens“ [Ejchenbaum 1965: 48]. Und so greift die neue Literaturwissenschaft doch wieder in das grosse Ganze der Menschheitsgeschichte aus.