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Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах
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Innerhalb dieser Evolutionsgeschichte literarischer Formen kennt Ejchenbaum auch ‚Revolutionen‘: „Jede neue Schule in der Literatur ist eine Art Revolution, so etwas wie das Auftreten einer neuen Klasse.“ [Ibid.: 47] In seinem Aufsatz „Die russische Literatur im Jahre 1912“ (von 1923) konkretisiert er das anhand der "Uberwindung des Symbolismus:

Es galt, das Verh"altnis zur poetischen Sprache umzuw"alzen, die zu einem toten Dialekt ohne lebendige Entwicklung und lebendige Phantasie degeneriert war. Man musste entweder eine neue wilde Redeweise erfinden oder aber die "uberlieferte poetische Sprache von den Fesseln des Symbolismus befreien. Die Frage lautete: Revolution oder Evolution [Ejchenbaum 1965: 155].

F"ur die Revolution stehen bekanntlich die Futuristen, f"ur die Evolution die Akmeisten, und beide k"ampfen um die Dominanz im literarischen Feld, um eine neue Kanonisierung.

„Revolution oder Evolution“? – Ejchenbaum nutzt beide Begriffe zur Beschreibung der literaturgeschichtlichen Reihe und unterstellt so beide derselben „geschichtliche[n] Gesetzm"assigkeit“. Gesetzm"assig verlaufende Prozesse kennen aber keine ‚Revolutionen‘ im radikalen Sinne des oben beschriebenen Leerstellenbegriffs, sie kennen keinen Bruch in der gesetzm"assigen Evolution und auch kein Herausfallen aus der Herrschaft des Evolutionsgesetzes. So gesehen depotenziert Ejchenbaum den ‚Revolutions‘-Begriff erheblich, indem er ihn zu einer Sonderform evolution"arer Entwicklung macht, die sich allein durch ihre radikale Beschleunigung („Schroffe historische Umbr"uche“ [Ejchenbaum 1965: 155]) von anderen unterscheidet. In diesem Sinne ist ‚Revolution‘ nicht das Andere einer als g"ultig vorausgesetzten Ordnungsstruktur, sondern dessen Teil, eben nur eine besondere Erscheinungsform von Evolution.

Dieser Befund gilt "uberall, wo der Begriff ‚Revolution‘ unter der Herrschaft eines "ubergeordneten holistischen Konzepts von Gesetzm"a-ssigkeit und Evolution steht. Und das gilt selbst f"ur den Marxismus. In seiner Schrift Das Elend der Philosophie formuliert Marx:

Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufh"oren, politische Revolutionen zu sein [MEW IV, 182].

Die „Ordnung der Dinge“, die Ordnung des Seins aber ist im Historischen Materialismus nicht nur f"ur das Enden von Revolutionen verantwortlich, sondern auch f"ur deren notwendiges Auftreten in vorkommunistischen Gesellschaftsformationen. ‚Revolution‘ aus historischer Notwendigkeit aber meint den depotenzierten Revolutions-Begriff, meint eben nicht eine Leerstelle im universalen Deutungsentwurf der Geschichte, sondern im Gegenteil eine Sondererscheinung der historischen Evolution, die sich nur durch Radikalit"at und Tempo unterscheidet.

Fragen wir abschliessend nochmals: Revolution oder Evolution? Welcher Begriff ist f"ur uns ach so Moderne der relevantere? Ich meine, wir haben einen Sieger nach Punkten: Zwar bekennen wir uns, dekonstruktionsfreudig wie wir sind, konsequent zu metaphysikfreien Leerstellenbegriffen wie ‚Revolution‘, doch m"ogen wir in dieser geistigen Leere, K"alte und Einsamkeit nicht leben und finden keine verbildlichte Orientierung, weder f"ur unser Denken noch f"ur unser Handeln. Wir m"ogen "ubrigens so auch nicht unsere eigene Wissenschaft betreiben. Deshalb greifen wir begierig nach solchen Konzepten, die alte metaphysische Sinnzuweisungen in modernem Design reformulieren – und der ‚Evolutions‘-Begriff hat Konjunktur!

Literatur

Beverley 1696 – Beverley, Thomas: A scheme of prophesy now to be fulfilled: or; A most humble appeal to the Lord God of the holy prophets, concerning the truth of what, hath been constantly declared, by the space of the last past twelve, and now this present thirteenth summer, of the kingdom of Christ entring into its succession in this following year, 1697. Together with a scheme of the great changes to be expected this present year, or in the very beginning of 1697, in preparation thereunto; and of the glorious revolution that shall be before the end of that year by that kingdom so entring its succession. [London: s.n. 1696].

Brockes 1721–48 – Brockes, Barthold Heinrich: Irdisches Vergn"ugen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. 9 Bde. Hamburg: Kissner, 1721–48.

Curtius 1978 – Curtius, Ernst Robert: Europ"aische Literatur und lateinisches Mittelalter. 9. Aufl. Bern, M"unchen 1978.

DFWB 1977 – Deutsches Fremdw"orterbuch. Bde. 1–2: Photomechanischer Nachdruck der Ausg. Strassburg: Tr"ubner 1913; bearb. von Haus Schulz. Ab Bd. 3 bearb. von Otto Basler. 7 B"ande. Berlin, New York (NY): de Gruyter, 1974–1988 [zit. als DFWB1].

DFWB2 2004 – Deutsches Fremdw"orterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgef"uhrt von Otto Basler. 2. Aufl., v"ollig neubearb. im Institut f"ur Deutsche Sprache von Gerhard Strauss (Leitung) et al. Berlin, New York (NY): de Gruyter, 1995ff [zit. als DFWB2].

Ejchenbaum 1965 – Ejchenbaum, Boris Michajlovic: Eichenbaum, Boris: Die Theorie der formalen Methode. In: Aufs"atze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Ausgew"ahlt und aus dem Russischen "ubersetzt von Alexander Kaempfe. 1.–8. Tsd. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1965 (= edition suhrkamp, 119), S. 7–52.

Georges 1913–1918 – Georges, Karl Ernst: Ausf"uhrliches lateinisch-deutsches Handw"orterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquit"aten unter Ber"ucksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. 8., verb. u. verm. Aufl. 2 Bde. Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 1913–1918.

Georges 1910 – Georges, Karl Ernst: Kleines deutsch-lateinisches Handw"orterbuch. 7., verbesserte und vermehrte Aufl. Hannover, Leipzig: Hahnsche Buchhandlung, 1910.

Goerdt 1974 – Goerdt, W.: Holismus. In: Historisches W"orterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter [ab Bd. 4: und Karlfried Gr"under]. V"ollig neubearbeitete Ausgabe des <W"orterbuchs der philosophischen Begriffe> von Rudolf Eisler. 13 Bde. Basel, Stuttgart 1971–2007, Bd. 3 1974, Sp. 1167–1168.

Goethe 1987 – Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Grossherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887–1919. ND M"unchen 1987.

G"unther 1971–2007 – G"unther, H[ans].: Revolution. In: Historisches W"orterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter [ab Bd. 4: und Karlfried Gr"under]. V"ollig neubearbeitete Ausgabe des <W"orterbuchs der philosophischen Begriffe> von Rudolf Eisler. 13 Bde. Basel, Stuttgart 1971–2007, Bd. 8 (1992), Sp. 957–973.

G"unther 2003 – G"unther, Hans: Evolution. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin, New York. Bd. 1. Gemeinsam mit Harald Fricke u.a. hrsg. von Klaus Weimar. 1997; Bd. 2. Gemeinsam mit Georg Braungart u.a. hrsg. von Harald Fricke. 2000; Bd. 3. Gemeinsam mit Georg Braungart u.a. hrsg. von Jan-Dirk M"uller. 2003. Bd. 1, S. 530–531.

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