1915 Кары (сборник)
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Er dachte dar"uber nach, wie dieser Freund, mit seinem Fortkommen zu Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Russland sich f"ormlich gefl"uchtet hatte. Nun betrieb er ein Gesch"aft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erz"ahlte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so f"ur ein endg"ultiges Junggesellentum ein.
Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, dem man aber nicht helfen konnte. Sollte man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufzunehmen – wof"ur ja kein Hindernis bestand – und im "ubrigen auf die Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als dass man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kr"ankender, sagte, dass seine bisherigen Versuche misslungen seien, dass er endlich von ihnen ablassen solle, dass er zur"uckkehren und sich als ein f"ur immer Zur"uckgekehrter von allen mit grossen Augen anstaunen lassen m"usse, dass nur seine Freunde etwas verst"unden und dass er ein altes Kind sei und den erfolgreichen, zu Hause gebliebenen Freunden einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher, dass alle die Plage, die man ihm antun m"usste, einen Zweck h"atte? Vielleicht gelang es nicht einmal, ihn "uberhaupt nach Hause zu bringen – er sagte ja selbst, dass er die Verh"altnisse in der Heimat nicht mehr verst"unde –, und so bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde, verbittert durch die Ratschl"age und den Freunden noch ein St"uck mehr entfremdet. Folgte er aber wirklich dem Rat und w"urde hier – nat"urlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen – niedergedr"uckt, f"ande sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie zurecht, litte an Besch"amung, h"atte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr; war es da nicht viel besser f"ur ihn, er blieb in der Fremde, so wie er war? Konnte man denn bei solchen Umst"anden daran denken, dass er es hier tats"achlich vorw"arts bringen w"urde?
Aus diesen Gr"unden konnte man ihm, wenn man "uberhaupt noch die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten geben w"urde. Der Freund war nun schon "uber drei Jahre nicht in der Heimat gewesen und erkl"arte dies sehr notd"urftig mit der Unsicherheit der politischen Verh"altnisse in Russland, die demnach also auch die k"urzeste Abwesenheit eines kleinen Gesch"aftsmannes nicht zuliessen, w"ahrend hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei Jahre hatte sich aber gerade f"ur Georg vieles ver"andert. Von dem Todesfall von Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der Freund wohl noch erfahren und sein Beileid in einem Brief mit einer Trockenheit ausgedr"uckt, die ihren Grund nur darin haben konnte, dass die Trauer "uber ein solches Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar wird. Nun hatte aber Georg seit jener Zeit, so wie alles andere, auch sein Gesch"aft mit gr"osserer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, dass er im Gesch"aft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen T"atigkeit gehindert. Vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch immer im Gesch"aft arbeitete, zur"uckhaltender geworden, vielleicht spielten – was sogar sehr wahrscheinlich war – gl"uckliche Zuf"alle eine weit wichtigere Rolle, jedenfalls aber hatte sich das Gesch"aft in diesen zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt. Das Personal hatte man verdoppeln m"ussen, der Umsatz sich verf"unffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.
Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Ver"anderung. Fr"uher, zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur Auswanderung nach Russland "uberreden wollen und sich "uber die Aussichten verbreitet, die gerade f"ur Georgs Gesch"aftszweig in Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegen"uber dem Umfang, den Georgs Gesch"aft jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen gesch"aftlichen Erfolgen zu schreiben, und jetzt nachtr"aglich h"atte es wirklich einen merkw"urdigen Anschein gehabt.
So beschr"ankte sich Georg darauf, dem Freund immer nur "uber bedeutungslose Vorf"alle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet aufh"aufen. Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungest"ort lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte. So geschah es Georg, dass er dem Freund die Verlobung eines gleichg"ultigen Menschen mit einem ebenso gleichg"ultigen M"adchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, f"ur diese Merkw"urdigkeit zu interessieren begann.
Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als dass er zugestanden h"atte, dass er selbst vor einem Monat mit einem Fr"aulein Frieda Brandenfeld, einem M"adchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt hatte. Oft sprach er mit seiner Braut "uber diesen Freund und das besondere Korrespondenzverh"altnis, in welchem er zu ihm stand. "Er wird also gar nicht zu unserer Hochzeit kommen", sagte sie, "und ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennenzulernen." "Ich will ihn nicht st"oren", antwortete Georg, "verstehe mich recht, er w"urde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er w"urde sich gezwungen und gesch"adigt f"uhlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unf"ahig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zur"uckfahren. Allein – weisst du, was das ist" "Ja, kann er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?" "Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner Lebensweise unwahrscheinlich. " "Wenn du solche Freunde hast, Georg, h"attest du dich "uberhaupt nicht verloben sollen. " "Ja, das ist unser beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben." Und wenn sie dann, rasch atmend unter seinen K"ussen, noch vorbrachte: "Eigentlich kr"ankt es mich doch", hielt er es wirklich f"ur unverf"anglich, dem Freund alles zu schreiben. "So bin ich und so hat er mich hinzunehmen", sagte er sich, "ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht f"ur die Freundschaft mit ihm geeigneter w"are, als ich es bin. "
Und tats"achlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit folgenden Worten: "Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluss aufgespart. Ich habe mich mit einem Fr"aulein Frieda Brandenfeld verlobt, einem M"adchen aus einer wohlhabenden Familie, die sich hier erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum kennen d"urftest. Es wird sich noch Gelegenheit finden, Dir N"aheres "uber meine Braut mitzuteilen, heute gen"uge Dir, dass ich recht gl"ucklich bin und dass sich in unserem gegenseitigen Verh"altnis nur insofern etwas ge"andert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gew"ohnlichen Freundes einen gl"ucklichen Freund haben wirst. Ausserdem bekommst Du in meiner Braut, die Dich herzlich gr"ussen l"asst, und die Dir n"achstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was f"ur einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiss, es h"alt Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zur"uck. W"are aber nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse "uber den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle ohne alle R"ucksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung. "
Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten, der ihn im Vor"ubergehen von der Gasse aus gegr"usst hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden L"acheln geantwortet.
Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine N"otigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater st"andig im Gesch"aft. Das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein, abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben; doch sassen sie dann noch ein Weilchen, meistens jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer, wenn nicht Georg, wie es am h"aufigsten geschah, mit Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte.
Georg staunte dar"uber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater sass beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter ausgeschm"uckt war, und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgend eine Augenschw"ache auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Fr"uhst"ucks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.
"Ah, Georg! " sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock "offnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn – "mein Vater ist noch immer ein Riese", dachte sich Georg.
"Hier ist es ja unertr"aglich dunkel", sagte er dann.
"Ja, dunkel ist es schon", antwortete der Vater.
"Das Fenster hast du auch geschlossen?"
"Ich habe es lieber so. "
"Es ist ja ganz warm draussen", sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Fr"uheren, und setzte sich.
Der Vater r"aumte das Fr"uhst"ucksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.
"Ich wollte dir eigentlich nur sagen", fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, "dass ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe. " Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und liess ihn wieder zur"uckfallen.
"Nach Petersburg?" fragte der Vater.
"Meinem Freunde doch", sagte Georg und suchte des Vaters Augen. – "Im Gesch"aft ist er doch ganz anders", dachte er, "wie er hier breit sitzt und die Arme "uber der Brust kreuzt. "