Bitterschokolade (Горький шоколад)
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Ein Junge mit einem silbernen Kreuz um den Hals nahm Michel den Stuhl aus der Hand und trug ihn zurьck ins Zimmer. Die anderen machten ihm schweigend Platz. Dann war Ilona da, setzte sich neben Frank und nahm seinen Kopf auf den SchoЯ. Sie wiegte ihn hin und her, wie eine Puppe, und Trдnen liefen ьber ihr Gesicht. Ihr Kleid war hochgerutscht, ihre Oberschenkel waren dick und weiЯ in dem Licht, das aus der offenen Tьr fiel.
»Ilona, nicht! Frank muss ganz ruhig liegen.« Petrus hatte sich gebьckt und hielt den Kopf des Jungen. Ilona schaute ihn mit groЯen Augen an. Jemand kam und zog sie weg.
»Reiner, ruf den Notarzt an«, sagte Petrus.
Ein Junge ging zurьck in das Haus. Niemand sagte ein Wort. Auch als der Notarzt kam, mit Martinshorn und Blaulicht, wurde nicht viel gesprochen.
»Frank Weilheimer heiЯt er, ja.«
»Nein, wir haben nichts gesehen. Wir waren beim Tanzen.«
»Er muss gestьrzt sein.«
»Ja, so wird es gewesen sein.«
Die anderen standen um Michel herum, der mit aufgerissenen Augen zusah, wie Frank auf eine Trage gehoben und zum Wagen gebracht wurde.
»Wenn du nur nicht gekommen wдrst...!«, sagte Ilona zu Eva.
Alle halfen, das Haus aufzurдumen. Petrus brachte Michel und Ilona nach Hause, war aber bald wieder zurьck.
»Schluss mit der Feier«, sagte er.
Niemand antwortete ihm.
Eva sammelte gerade die Pappbecher ein, die
»Sehr frцhlich seht ihr ja nicht aus«, sagte er.
Eva fing an zu weinen. »Hat dir jemand etwas getan?«, fragte der Vater. Er sah groЯ und stark aus und sehr besorgt. Eva lehnte sich an ihn. Er legte den Arm um sie. »Hat dir jemand etwas getan?«, fragte er noch einmal. Eva schьttelte den Kopf und wischte sich die Trдnen aus dem Gesicht. Nein, niemand hatte ihr etwas getan. Nichts war geschehen, nein. Eva drьckte ihr Gesicht an seinen Дrmel. Der Geruch war vertraut und trцstend. Nein, es war nichts.
»Es hat einen Unfall gegeben«, erklдrte Petrus dem Vater. »Ein Junge ist gestьrzt.«
Eva weinte, den Kopf in die Kissen vergraben, mit heiЯem, verquollenem Gesicht. »Willst du deinem FettkloЯ beweisen, was fьr ein toller Kerl du bist?« Und
dann Frank, auf dem Boden liegend, Ilona, die seinen Kopf wiegte, Ilona, die sagte: »Wenn du nur nicht gekommen wдrst ...!«
Eva spьrte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Ich FettkloЯ! Meinetwegen ist das passiert, nur meinetwegen. Und Michel? Warum war er nicht einfach weggegangen? Frank hatte ein Messer in der Hand, es blitzte im Lichtschein.
Eva, mit kribbelnden Wangenmuskeln und vorgeschobenem Unterkiefer, erreichte gerade noch das Badezimmer, beugte sich ьber das Waschbecken und wьrgte, wьrgte alles heraus, bis ihr Bauch sich zusam-menkrampfte. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf und lieЯ das Wasser ьber ihr Gesicht und ihre Hдnde laufen, spьlte das Erbrochene weg, wischte so lange, bis nur noch der sдuerliche Geruch ьbrig blieb.
Sie fьhlte eine groЯe Leere in sich, ein riesiges Loch, hohl war sie, ausgehцhlt, schmerzhaft ausgehцhlt. »Mir tut der Magen weh, weil er so leer ist.« Ein trцstlicher Gedanke, dass sie etwas gegen die schmerzende Unlust tun konnte.
Sie aЯ eine trockene Scheibe WeiЯbrot, ganz langsam aЯ sie, kaute lange, um ihren armen, gepeinigten Magen zu schonen. Das trockene Brot kratzte in ihrem Hals. Sie wдrmte sich Milch, aЯ ein Butterbrot dazu, dann noch eines, Salami war im Kьhlschrank und Mil~ kana Schmelzkдse, zwei Ecken waren noch da. Die Schmerzen in ihrem Bauch lieЯen nach, sanft wurde
ihr Magen, ganz sanft und voll. Sie schlich in ihr Bett zurьck.
Es gab kein Problem auЯer diesem Problem, dem Problem der Probleme. Der Speck war es, diese widerliche, weiche Wabbelschicht, die zwischen ihr und ihrer Umwelt stand, StoЯdдmpfer und Kokon, Polster und Eisenring. Nur der Speck war schuld. Speck bedeutete Traurigkeit, Abseitsstehen, Abgelehntwerden, bedeutete Spott, Angst, Scham.
Eingebettet in Speck verbarg sie sich, sie, die wahre Eva, die eigentliche Eva, so wie sie sein sollte: unbelastet von der Last des Fettes, leicht-lebig, hebens-wert.
Eingesperrt in dieser Fettschicht war sie, die wirkliche Eva, die nicht stдndig an Essen dachte, an Nahrung und Fьllstoff, die nicht so beschдmend heimlich
ьber alles Essbare herfiel und es in sich hineinfraЯ wie eine Maschine, wie ein Bagger, alles, egal was, und so lange, bis nichts mehr da war.Eingepfercht in diesen Kokon lebte die andere Eva, die, die keine Gier kannte, kein wahlloses Mampfen, Schlingen, Schlucken, Wьrgen.
Eines Tages, an irgendeinem Tag, wьrde der Speck in der Sonne schmelzen, ein ganzer Fettbach wьrde in den Rinnstein flieЯen, eine widerliche, stinkende, цlige Flьssigkeit, und ьbrig blieb sie, die andere Eva, die schwerelose, heitere, wirkliche Eva. Die glьckliche Eva.
Um drei Uhr saЯ Eva montags am Brunnenrand, die Haare straff nach hinten gekдmmt, mit einer Spange gehalten.
Michel kam nicht.
Seltsam, dass die Sonne scheint, dachte sie. Es mьsste regnen. Es mьsste grau sein. Die Bдume sollten sich biegen im Wind und kein Vogel sollte singen dьrfen.
Sie zog sich ihre Sandalen aus und ging barfuЯ ьber den Kiesweg. Die kleinen Steinchen stachen und piekten in ihre weichen FuЯsohlen. Das ist gut, dachte sie. Sie versuchte, sehr fest aufzutreten, so fest, dass der Schmerz sie zwang, die Zдhne zusammenzubeiЯen. »Es tut weh«, sagte sie leise vor sich hin, rhythmisch, zu jedem Wort ein Schritt. »Es-tut-weh-es-soll-wehtun-es-muss-wehtun-es-geschieht-mir-recht-dass-es-wehtut.«
Durch den Park ging sie, bis auf die andere Seite, bis zum Gartencafe, und dann wieder zurьck. Michel war nicht da. Ihre Beine waren schwer wie Blei.
Sie zog ihre Sandalen wieder an und ging in Richtung Bahnhof. An der groЯen Buchhandlung blieb sie stehen, zцgerte, sie musste sich ьberwinden hineinzugehen.
»Kann ich Ihnen was helfen?«, fragte eine junge, sehr schlanke Buchhдndlerin.
»Danke«, sagte Eva. »Ich schaue nur.«
Dann stand sie vor einem Regal mit Diдtbьchern, Bьchern zum Abnehmen, Gewichtsreduzierung. Gesьnder leben.
Sie nahm ein Buch heraus und blдtterte darin herum. Brot in Kalorien und Joule, Joghurt in Kalorien und Joule, ein mageres Steak (150 g) in Kalorien und Joule.
Eva drehte sich um. Sie fьhlte sich beobachtet. Aber da stand nur die Buchhдndlerin, die schlanke. »Brauchen Sie etwas?«
Eva schьttelte den Kopf, legte das Buch zurьck in das Regal und nahm, ohne hinzusehen, ein anderes. »Das mцchte ich haben.«
Zu Hause setzte sie sich an den Schreibtisch und fing an zu lesen. Bis abends wusste sie ganze Kalorientabellen auswendig, gelernt wie Vokabeln. Ich bin schuld, weil ich so dick bin. Ich bin an allem schuld, weil ich mich nicht beherrschen kann. In welchem Krankenhaus war Frank? Tausend Kalorien am Tag, nicht mehr. Warum war Michel denn nicht gekommen? Was war mit Frank?